Von Oren Geller, Tel-Aviv
„Morgentau, Bach, Koralle und Geschenk! Ich will während des ganzen Unterrichts kein Wort mehr von euch hören“, meint Lehrerin Mein-Licht zu ihren vier Schülern. Eine Situation, die sich in israelischen Klassen täglich abspielt – auch die Namen sind alles andere als erfunden. Denn die modernen israelischen Vornamen besitzen Bedeutungen, die mit den klassischen jüdischen Namen nichts mehr gemein haben.
Heute heißen die Kinder Israels „Eiche“ (Alon), „Zeder“ (Erez), „Quelle“ (Ma’ajan), „Möwe“ (Schachaf), oder gar „Morgenröte“ (Schachar). Laut Prof. Meir Bar Ilan, Forscher für Judaistik an der Bar-Ilan Universität, haben hebräische Namen einiges durchgemacht, bis sie ihre heutige schlichte Form erlangt haben. Die maskulinen Namen zu Moses Zeiten waren oft lang und vor allem theophorisch. Meistens waren es die Frauen, in deren Namen sich die Natur- und Tierwelt widerspiegelte. Die Namen der Herren der Schöpfung wiesen stets ein Bestandteil des Gottesnamen auf – deshalb theophorisch. Wie zum Beispiel der Name des Propheten Ezechiel. Dieser wird auf Hebräisch Jecheskel ausgesprochen. Die letzten beiden Buchstaben bedeuten „Gott“. Der erste Teil des Gesamtwortes leitet sich von „stark“ ab, da die Eltern hofften, dass der Allmächtige das Kind stark mache.
Dass das moderne Israel sich von den alten Namen entfernt hat, kann damit erklärt werden, dass die Gesellschaft des neuen Staates gänzlich auf die junge, von religiösen Zöpfen losgelöste hebräische Kultur basieren sollte. Die Symbolik des „alten Europas“ wollte man hinter sich lassen, die Gesellschaft brauchte neue Namen. Bar-Ilan, dessen Familienname, nebenbei bemerkt, ursprünglich Berlin lautete, ist der Meinung, dass bereits vor der Staatsgründung der große Namensumschwung einsetzte. Bis dato gaben sich Juden die traditionellen biblischen Namen. Aber mit dem Aufkommen des Zionismus durchforschte man die Bibel mit einer anderen Sichtweise. Von nun an standen nicht nur bekannte und weniger bedeutende Figuren als Namensgeber zur Verfügung, sondern man ließ sich auch durch die in den Schriften vorkommende Pflanzen- und Tierwelt, Orte, Flüsse und Seen inspirieren. So erschlug man mehrere Fliegen mit einer Klappe: Man schuf neue hebräische Namen und blieb den alten Schriften somit treu, wenn auch nicht auf althergebrachte religiöse Art. „In den alten Zeiten wäre es pagan [heidnisch], seine Kinder nach Bäumen zu benennen“, meint Bar-Ilan.
Indem die Heiligen Bücher nun nicht mehr nur die traditionellen Namen lieferten, erweiterte sich auch der Namenspool, besonders der weibliche. Denn die Schriften sind mit rund 1400 männlichen Namen gespickt aber nur mit etwa 110 femininen.
Namen, die göttliche Elemente enthalten, werden von der modernen israelischen Gesellschaft kaum noch vergeben. Die neue Durchforstung der Schriften und das Nichtvorhandensein einer regelnden Namensbehörde im jüdischen Staat haben dazu geführt, dass etliche Namen an beide Geschlechter verliehen werden. So wurde der Vorname Amit (bedeutet Freund) 2006 an 370 Mädchen und an 643 Buben vergeben. Weitere Namen, die an beide Geschlechter verliehen werden, sind unter anderem Bar (Wild), Yam (Meer) und Schoham (Onyx). Laut der amtlichen Statistik sind es rund 4000 Kinder jährlich, die Unisex-Namen erhalten.
Aber nicht nur die Zurückdrängung der Religion öffnete neue Türen, auch die zionistische Staatsdoktrin trug das ihre dazu bei. Denn als Mirel-Jente und ihr Ehemann, Miosche-Wolf, zusammen mit deren zwei kleinen Töchter, Rickel-Sureh und Faige-Chaweh und noch zwei Söhnen nach dem Krieg aus Polen nach Israel einwanderten, ließen sie die zionistische „Namensmaschinerie“ über sich ergehen. Obwohl die Namen aller jüdisch waren, rochen sie dem damaligen zionistisch-hebräischen Establishment doch zu sehr nach Diaspora. Was neues, schönes, Hebräisches musste her. In den Ausweisen wurden zwar die Namen eingetragen, aber die alte Aussprache fallen gelassen: Mutter Mirel wurde fortan hebräisch fein Miriam genannt und aus Moische wurde Mosche, was auf Deutsch Moses bedeutet. Rickel-Sureh erhielt den Namen Schoschana, obwohl Sureh die jiddische Version von Sarah wäre. Und Faige-Chaweh bekam den Namen Zipora, da Faigeh die jiddische Version von Vogel ist, und der neue Name dem entspricht – eben nur auf Hebräisch.
Heute ist der Einfluss des Staates weitaus geringer als zur Gründungszeit Israels. Auch haben sich gesellschaftliche Normen verschoben. Eine eindeutige Geschlechterzuweisung ist kein Muss.
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