Das römische Vornamensystem in der letzten republikanischen Epoche

Teil 10 des Aufsatzes Die römischen Eigennamen der republikanischen und augusteischen Zeit von Theodor Mommsen (bearbeitet von Knud Bielefeld)

Eine eigentümliche Modifikation hat das römische Vornamensystem in der letzten republikanischen Epoche seit Sulla und unter den julischen Kaisern erfahren, jedoch ausschließlich in den Kreisen des höchsten Adels und vornämlich in dem regierenden Hause selbst. Schon das gehört in diesen Kreis, dass von den regierenden Kaisern der Imperatorentitel anfing statt Vornamen in der Art geführt zu werden, dass ursprünglich der bürgerliche Vorname neben dem praenomen imperatoris wegfiel. Seit Octavian das letztere angenommen hat, nennt er sich nie, auch nicht in der förmlichsten Titulierung, imp. C. Caesar, sondern durchaus imp. Caesar. Die folgenden Kaiser Tiberius, Caligula, Claudius nahmen den gewöhnlichen Vornamen zwar wieder auf, aber enthielten sich dafür auch des Imperatorenpränomens. Nero ist der erste Kaiser, der zu seinem bürgerlichen Namen häufig den Imperatorenvornamen hinzufügt. Von da an verschwindet das Gefühl wie für die anderen organischen Bildungsgesetze des römischen Namenwesens, so auch dafür, dass Imperator bei den Kaisern an die Stelle des Vornamens getreten ist und mit diesem nicht zusammengefasst werden kann.

Weiter greift das Aufkommen einzelner neuer oder erneuerter Vornamen in den höchsten Adelskreisen. Von dieser Art begegnet zuerst bei den Cornelii Sullae der Vorname Faustus, den der Sohn des Diktators und die wahrscheinlich von diesem herstammenden Cornelii Sullae Consuln 31 und 52 n. Chr. führen; ferner Paullus sowohl bei den Aemiliern, wo der Sohn des Consuls 704, Consul 720 Paullas Aemilius Lepidus heißt und außerdem unter Tiberius ein Paullus Aemilius Paulli f. Pal. Regillus vorkommt, als auch bei den Fabiern, wo der gleiche Vorname den Consuln 743 d. St. und 34 n. Chr. gegeben wird; weiter Iulius bei dem Sohn des Triunrvirs M. Antonius Consul 744; Cossus bei den Cornelii Lentuli Consuln 753 d. St. und 25 n. Chr.; Nero in dem mit der julischen Dynastie eng verbundenen Seitenzweig der Claudier, wo zuerst der Stiefsohn des Augustus seinen früheren Vornamen Decimus mit Nero vertauschte und der letztere Vorname dann auf seinen Adoptivenkel, den nachherigen Kaiser überging; endlich in der regierenden Dynastie selbst Agrippa, Drusus, Germanicus und Nero. Auch Magnus Pompeius, der Schwiegersohn des Kaisers Claudius, scheint das ihm früher aberkannte Cognomen seines Hauses nicht als Cognomen, sondern als Pränomen zurückerhalten zu haben. In allen diesen Fällen ist das irreguläre Pränomen konstant, so dass den betreffenden Individuen nirgends eines der gewöhnlichen beigelegt und jenes im offiziellen Stil durchaus an der Spitze des Namens gefunden, häufig auch durch mehrere Generationen fortgepflanzt wird. Schwankend sind die ähnlichen Vornamen des statilischen und des valerischen Geschlechts. Der Großvater und der Vater der Messalina führen in gleichzeitigen Dokumenten stets den Vornamen jener Sisenna, dieser Taurus, während in dem späterhin gangbaren Consularverzeichnis beiden der gewöhnliche Vorname Titus gegeben wird. Der Consul des Jahres 5 nennt sich zwar als Münzmeister Volusus, dagegen als Consul Lucius. Den Wechsel der Nomenklatur kann man auf das Eingreifen kaiserlicher Gnade oder Ungnade oder auch unberufene Anmaßung zurückführen.

Zweifellos sind die aufgeführten Namen in der Tat der Absicht und dem Wesen nach eigentliche Vornamen und nicht etwa bloß umgestellte Cognomina gewesen. Es sind unter der kleinen Zahl mehrere, die entweder, wie Faustus und Agrippa, als alte abgekommene Vornamen bezeugt sind, oder von denen eine ähnliche Geltung sicher geschlossen werden darf — so muss Volusus einmal neben Valerius gestanden haben wie Marcus, Quintus neben Marcius, Quintius. Paullus als Vorname zu fassen legte das sehr gewöhnliche Frauenpränomen Paulla oder Pola nahe. Also wird die aristokratische Altertumsforschung der letzten republikanischen und der augusteischen Zeit die größere Freiheit der älteren Namenwahl und die zahlreichen abgekommenen Pränomina zu erneuern versucht haben. Praktische unterscheiden sich diese Vornamen von den gewöhnlichen darin, dass jeder derselben nur einem einzelnen oder höchstens zwei eng verwandten Geschlechtern zukommt und dass sie sich nur auf die Nachkommen, nicht auf die Freigelassenen übertragen. So hieß der Freigelassene des Kaisers Nero nicht Nero Claudius, sondern 77. Claudius Aug. I. Überhaupt kommen alle jene Sondervornamen unter den Freigelassenen und deren Nachkommen nicht vor. Im Gebrauch werden sie eigentümlich und in einer dem Cognomen sich nähernden Weise behandelt, wie sie denn häufig allein das Individuum bezeichnen. Auch Benennungen wie Cossus Cn.f. Lentulus würden bei einem regulären Vornamen unerhört sein. Weitere Aspekte sind, dass sie auch, obwohl Vornamen geworden, doch nicht aufhören als Cognomina selbst in denselben Häusern verwandt zu werden und dass sie niemals abgekürzt werden. In allen diesen Eigentümlichkeiten mit Ausnahme der letzten sind sie den älteren Sondervornamen der Claudier und Aemilier (Appius und Mamercus) aufs engste verwandt; denn auch diese können auf die Freigelassenen nicht übergegangen sein, da sie niemals bei geringen Leuten erscheinen. Es kommt hinzu, dass diese neuen oder erneuten Vornamen vorzugsweise bei den Claudiem und Aemiliern selbst so wie überhaupt bei altpatrizischen Familien gefunden werden, während bei tatsächlich höher gestellten, aber ahnenlosen Personen, zum Beispiel M. Vipsanius Agrippa, von dergleichen Namen keine Spur begegnet.

Das Recht des gentilicischen Sondervornamens wurde von den patrizischen Claudiern stets bewahrt und auch von den patrizischen Aemiliern nicht ganz aufgegeben.
Als die sullanische Restauration den Adelsgeist neu belebte, haben anscheinend zuerst das cornelische Geschlecht, demnächst andere Häuser des höchsten Adels einen gleichen Ehrenvorzug für sich in Anspruch genommen und insofern den durch Herkommen und vielleicht jetzt selbst durch Gesetz festgestellten bürgerlichen Namenszwang für das Patriziat durchbrochen haben. Das augusteische Regiment war bemüht, die altrepublikanische Adelschaft mit der neuen Despotie zu versöhnen und zu verschmelzen und hat diese Praxis bereitwillig aufgenommen und weiter entwickelt. Mit dem Untergang der julischen Dynastie und dem Emporkommen der niedrig geborenen Flavier haben diese Nachklänge der alten Oligarchie ein Ende, wie denn damals die alte aristokratische Tradition überhaupt sich verliert und die eng damit verknüpfte Strenge der Nomenklatur rasch verschwindet.

Das eben erörterte nach fester Ordnung dem Geschlechtsnamen vorzustellende und in dem offiziellen Stile stets vorgestellte Pränomen darf nicht mit dem durch bloße Willkür der Rede vor den Geschlechtsnamen gestellten Cognomen verwechselt werden. In sorgfältiger republikanischer Prosa kommt dergleichen Transposition nicht vor; Cicero hat sie einige Male in Briefen. In der augusteischen Zeit begegnet sie schon öfter, bei Tacitus sehr häufig auch in der gehaltenen Rede. Sie ging lediglich daraus hervor, dass mit dem Sinn für die alte republikanische Ordnung auch das Gefühl für die adäquate Sprache zu Ende ging. Nachdem man dann einmal Macer Licinius und Tarquinius Sextus sich gestattete, war die Zeit auch nicht mehr fern, wo die organische Gliederung des Namens und damit zuerst das Pränomen, dann der Geschlechtsname verschwanden und schließlich eine wüste Masse zusammengeklitterter Cognomina selbst im offiziellen Stil allein übrig blieb.