Teil 6 des Aufsatzes Die römischen Eigennamen der republikanischen und augusteischen Zeit von Theodor Mommsen (bearbeitet von Knud Bielefeld)
Auch in den frühesten Zeiten der Republik und in der Zeit der Könige gehörten die später ausschließlich geltenden Vornamen wohl schon zu den häufigsten Vornamen. Daneben kommen aber noch andere patrizische Vornamen vor, die später nicht mehr als Vorname verwendet worden sind und schon von den Forschern der republikanischen Zeit auf gelehrtem Wege, namentlich aus den ältesten Beamtenlisten zusammengestellt wurden. Varro zählte vierzehn solcher abgekommenen Vornamen auf: Agrippa, Ancus, Caesar, Faustus, Hostus, Lar, Opiter, Postumus, Proculus, Sertor, Statius, Tullus, Volero und Vopiscus.
Hinzuzufügen sind aus den uns zugänglichen Quellen als sicher patrizische Vornamen Numa, Denter und Aruns. Vibius ist als patrizisch-römischer Vorname nicht sicher, Volusus gar nicht zu belegen. Mit Recht also wird von Varro die Gesamtzahl der römischen Vornamen, von denen überhaupt sich Kunde erhalten hatte, auf ungefähr dreißig angesetzt. Zweifellos sind ehemals unter den Patriziern noch mehr Vornamen im Gebrauch gewesen als die angeführten. Nur der Umstand, dass wir außer der Königs- und Beamtentafel fast gar keine der älteren Zeit angehörige Überlieferung besitzen, lässt die Zahl der einst in Rom üblichen Vornamen so klein erscheinen. Aber wenn man etwa von der Königstafel absieht, so erscheint der Namenszwang doch schon in der frühesten Epoche, welche die römische Überlieferung erreicht, nur nicht in der strengen Ausschließlichkeit wie späterhin und öfter durch individuelle Geschlechtersatzung durchbrochen. Ein deutliches Indiz dafür, dass die später verschollenen Vornamen schon lange vorher singulare gewesen sind, besteht darin, dass für keinen davon eine feste Abkürzung entstanden ist.
Der Sprachgebrauch der späteren republikanischen Zeit verfährt mit der Auswahl der Namen, deren vollständige Aufzählung überall nur dem Aktenstil, nicht dem Leben angehört, in auffallender Weise. Die Bezeichnung mit einem einzigen Namen hat überhaupt etwas Formloses. Das Cognomen allein gehört der freundschaftlichen, das Pränomen allein sogar der familiären Redeweise, besonders der unterwürfigen Hausleute und Klienten an. Der bloße Geschlechtsname wird, wenigstens bei Personen, die ein Cognomen besitzen und gebrauchen, nicht häufig angewandt, dagegen fast ausschließlich zu den Ableitungen verwendet — man sagt via Aemilia, forum Cornelii, lex Valeria, ebenso in den Adoptionsderivativen Aemilianus, Servilianus. Die übliche formgerechte Bezeichnung verlangt mindestens zwei Namen und zwar immer den Vornamen, aber verbunden entweder mit dem Geschlechts- oder mit dem Beinamen. Die Bezeichnung mit Geschlechts- und Beinamen unter Weglassung des Vornamens ist zwar schon Livius und Valerius Maximus, aber noch nicht den Schriftstellern der republikanischen Epoche geläufig.
Dies alles ist augenscheinlich nicht ursprüngliche Weise. Sicherlich haben die Römer von Hause aus im gewöhnlichen bürgerlichen Verkehr nicht mehr als einen und eben den Individualnamen verwendet. Die Natur der Sache ebenso wie die Analogie der Griechen bürgt dafür, dass dieses der Ausgangspunkt gewesen ist und der Römer älterer Zeit so wenig wie jemals der Athener daran gedacht hat, die Gaunamen in die gewöhnliche Rede zu mischen oder gar Wege und Gesetze nach dem Distrikts- statt nach dem Eigennamen des Gesetzgebers zu nennen. Auch gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die ausschließliche Setzung des Vornamens früher normal war und nur in Folge der Beschränkung der Vornamen auf eine außerordentlich geringe Zahl als allzu undeutlich aufgegeben wurde. Dafür spricht der griechische (polybische) Sprachgebrauch, die Römer nur mit dem Vornamen zu bezeichnen. Ferner die spätere Praxis selbst, in der förmlichen Rede den Vornamen zu nennen und nur eine nähere Bestimmung desselben zu ergänzen. Außerdem die bemerkenswerte Tatsache, dass diejenigen Vornamen, die nur in einzelnen Geschlechtern vorkommen, also schon ohne Beisatz hinreichend bestimmt sind, auch außerhalb der familiären Rede sehr häufig für sich allein stehen. Das betrifft beispielsweise Appius, Mamercus und den in der letzten Zeit der Republik vorzugsweise den Sulpiciern verbliebenen Vornamen Servius. So wird Appius ganz in derselben Weise abgeleitet wie dieses sonst vom Gentilnamen geschieht — man sagt via Appia, aqua Appia, forum Appii, Appianus. Die römischen Individualnamen Marcus, Gaius und so weiter haben demnach in ältester Zeit ohne Zweifel die gleiche Funktion gehabt wie die Solon und Miltiades der Griechen. Der römische Namenszwang hat den Namen aber so gründlich eingeschnürt, dass er seine Dienste versagte und das „Kennzeichen“ nicht mehr kennzeichnete. So musste man seine Zuflucht teils zu Doppel-, teils zu Beinamen nehmen. Ja sogar dem Gaunamen, seit er wider die Natur der Dinge individueller als der Individualname geworden war, wurde in der Derivation eine an sich widersinnige Rolle zugeteilt.