Ausbreitung bis in das fünfzehnte Jahrhundert

Von Tileman Dothias Wiarda, 1799 (bearbeitet von Knud Bielefeld)


Tileman Dothias Wiarda

§ 31. Deren allmähliche Fortschritte und Ausbreitung bis in das fünfzehnte Jahrhundert

Am Anfang des dreizehnten Jahrhunderts hob die Hierarchie mächtig ihr Haupt empor. Dem Papst allein wurde die Kanonisation [Heiligsprechung] der Heiligen vorbehalten. Das Mönchtum vermehrte sich durch die neu gestifteten Augustiner, Dominikaner und Franziskanerorden. Die Inquisition und Ketzer-Verfolgung machte den Klerus furchtbar, und die erfundene Ohrenbeichte flößte ihr Zutrauen ein. Die Geistlichkeit mischte sich in Staats- und Polizeisachen und unterjochte durch Kunstgriffe und Gewalt die weltlichen Fürsten. Edelleute, Bürger und Bauern wurden nach dem Gutfinden der Geistlichen und der Mönche geleitet. Ihre Reden waren Orakel und Göttersprüche. So wie die Macht und das Ansehen der Geistlichen sich immer mehr hob und der Aberglaube sich ausbreitete, sank die deutsche Festigkeit. Vorher hatte der Deutsche die Taufnamen seiner Kinder aus seinem eigenen Geschlecht oder aber auch wohl von seinen Freunden und Gönnern übernommen. Nun aber fingen die Namen seines Geschlechts an, den Namen der Heiligen zu weichen. Man stand nämlich in dem Wahn, dass die verstorbenen Heiligen einen großen Einfluss auf die Schicksale der Menschen hätten. Man nahm sie zu Schutzpatronen ganzer Länder, besonderer Städte und einzelner Familien an. Erzpriester, Prälaten, Mönche und Laien beugten vor ihren Bildern ihre Knie, beteten sie an und erhoffen sich von ihnen kräftigen Schutz. Man weihte Kirchen, Tore, Straßen und Märkte einem Heiligen und taufte Brücken, Glocken und Schiffe auf den Namen eines Heiligen.

Ein besonderes Beispiel dieses Aberglaubens stellt uns die russische Geschichte dar. Dem unglücklichen Kaiser Peter III wurde es zu einem Verbrechen angerechnet, dass er zwei neuerbaute Schiffe „Prinz Georg“ und „König Friedrich“ benannt hatte, nach seinem Vetter und dem König von Preußen. Weil alle anderen Schiffe die Namen eines Heiligen führten, glaubten die Russen, dass dadurch die Heiligen beleidigt wurden und ihre Marine einer großen Gefahr ausgesetzt würden. Auf ihr Anhalten ließ die staatsklügere Catharina II die Schiffe umtaufen und gab ihnen die Namen des heiligen Nicolaus und des heiligen Alexanders. Diese anabaptistischen Schiffe waren grade die einzigen, welche 1768 in türkische Hände fielen.

War es daher zu verwundern, wenn Laien, die in den geistlichen Stand übertraten, sich einen gewissen Heiligen wählten und zu ihrem Taufnamen noch den Namen eines Heiligen annahmen?
Natürlich glaubte nun auch der deutsche Laie sein Kind zu beglücken, wenn er es einem Heiligen weihte, wenn er es der besonderen Obhut eines Heiligen anvertraute und es mit dem Namen eines Heiligen belegte. Die alles vermögenden Geistlichen, die so sehr für die Namen der Heiligen eingenommen waren, begünstigten diesen Aberglauben. Zwar konnten Sie die echt germanischen Namen nicht verdrängen, denn der Deutsche hielt gar zu sehr auf seine Verwandtschaft, aus deren Mitte er die Namen seiner Kinder nahm; indessen konnten sie bei dem anwachsenden Aberglauben das Volk leicht überreden, den Kindern einen zweiten Namen bei der Taufe zu geben und solchen aus dem Zirkel der Heiligen zu nehmen. Dieses mag schon früh in den ersten Jahrhunderten nach Einführung des Christentums geschehen sein. Man kann dem Anfang und dem Fortgang aber nicht nachspüren, weil der erste Name, der aus der Verwandtschaft hergenommen war, als der rechte Eigenname, der zweite aber, der Heiligen Name, nur als Beiname galt. So wie selbst die Geistlichen bloß unter ihrem rechten Eigennamen im gemeinen Leben und in Schriften auftraten, so verfuhr auch der deutsche Laie mit seinem zweiten Taufnamen. Auch er blieb nur unter seinem ersten Taufnamen seinen Zeitgenossen und Nachkommen bekannt. Wie nun der zweite Eigenname erst selten, dann öfter und zuletzt gewöhnlich aus der Zahl der Heiligen entlehnt war, so fing man, wiewohl äußerst selten, erst in dem zwölften Jahrhundert an, auch den ersten Taufnamen oder den rechten Eigennamen von einem Heiligen herzunehmen. Diese in dem zwölften Jahrhundert nur einzeln gepflanzten Namen der Heiligen vermehrten sich am Anfang des folgenden Jahrhunderts durch den befestigten Aberglauben und breiteten sich in der Mitte desselben immer weiter aus; wie sich auch der Wirkungskreis der Geistlichen mit dem Zwischenreich oder der Anarchie noch mehr ausdehnte. Doch machten die Namen der Heiligen in den deutschen Provinzen nicht überall gleiche Fortschritte. Je tiefer ein Volk dem Aberglauben unterlag und je größeren Einfluss die Geistlichen auf das Volk hatten, desto mehr häuften sich die Namen der Heiligen. Im vierzehnten, noch mehr im fünfzehnten Jahrhundert, worin Mönchs-Unsinn den ganzen deutschen Boden verdüsterte, wurden die Namen der Heiligen allgemeiner. Das fünfzehnte Jahrhundert war die Hauptepoche, worin sich mit besonderer Schnelligkeit diese ausländischen Namen allenthalben so ausbreiteten, dass den alten deutschen Eigennamen bei weiteren Fortschritten der völlige Untergang bevorstand.