Von Tileman Dothias Wiarda, 1799 (bearbeitet von Knud Bielefeld)
§ 5. Auch der Germane benannte seine Kinder bald nach der Geburt
Von diesem so allgemeinen und selbst durch die Notwendigkeit eingeführten Gebrauch können die Germanen nicht abgegangen sein. Zwar will ein Etymologe namens Potter behaupten, die alten Deutschen hätten ihren Kindern nicht gleich nach der Geburt, sondern später, wenn sie herangewachsen, einen ihren sich entwickelnden Anlagen und Fähigkeiten entsprechenden Namen gegeben; allein ihm fehlen Gewährsmänner, und sein bloßes Wort bürgt nicht für seine, den Sitten aller anderen Völker widersprechende Hypothese. Wie vor ihm und nach ihm die meisten Etymologen legte er die deutschen Eigennamen irrig aus und glaubte in ihnen auch Laster, Mängel, Gebrechen und zufällige Dinge vorzufinden. Er konnte es daher nicht mit der natürlichen Liebe der Eltern zu ihren Kindern reimen, diesen solch gehässige Namen zu geben. Und künftige zufällige Dinge konnten noch weniger in den Namen zarter Kinder liegen, weil diese sich noch nicht ereignet hatten. Wie konnte er also diesen Widerspruch besser heben, als wenn er die Kinder erst in reiferen Jahren, worin sie Tugenden und Laster fähig waren, schon im Wohlstande lebten oder Missgeschicke fühlten, benennen ließ? Die Notwendigkeit, die Kinder frühzeitig zu benennen, fühlte der Wortforscher Meinders zwar, doch war er mit Potter und anderen Etymologen auf demselben Irrwege, dass er den Germanen auch gehässige Eigennamen beilegte. Daher fand er eine Mittelstraße aus. Er lässt nämlich die Germanen ihre Kinder bald nach der Geburt benennen, glaubt aber, dass den Söhnen bei Antritt ihres männlichen Alters, oder wenn sie wehrbar gemacht wurden, ein anderer Name beigelegt worden ist. Angenommen, der Germane habe bei dem Eintritt in sein mannbares Alter einen zweiten Namen erhalten, so hat er doch den ihm bald nach der Geburt beigelegten Eigennamen nicht abgelegt. So ist der zweite Name nur als Beiname anzusehen. Überhaupt scheint Meinders Eigennamen mit Beinamen zu verwechseln. Die alten Deutschen verfuhren also wohl unstreitig mit der Benennung ihrer Kinder so wie wir und andere Völker. Sie legten ihnen frühzeitig einen Namen bei, den sie immer behielten. Dass denn aber die alten Deutschen ihren Kindern bald nach der Geburt einen Namen gegeben haben, lässt sich aus verschiedenen Tatsachen beweisen. Von den Franken wissen wir mit Gewissheit, dass ihre Kinder vor dem neunten Tag ihrer Geburt benannt wurden. Die salischen Gesetze belegen es. Daraus lässt sich folgern, dass die Franken mit dem neunten Tage ihren Kindern einen Namen beigelegt haben. Auch sind viele Tatsachen vorhanden, die zum Beweise dienen, dass die nördlichen germanischen Völker bald nach der Geburt ihren Kindern einen Namen gegeben haben. [Siehe die Heimskringla des isländischen Schriftstellers Snorro Sturelson aus dem 12. Jahrhundert.]