Ein verstümmelter Name

Von Tileman Dothias Wiarda, 1799 (bearbeitet von Knud Bielefeld)


Tileman Dothias Wiarda

§ 19. Ein verstümmelter Name ist in seine rechte Gestalt wieder her zu stellen

Ist man mit der Sprache bekannt oder kennt man die Kraft und die Bedeutung des in dem Namen liegenden Wortes, so kann die Auslegung eines solchen Eigennamens nicht schwer fallen, wenn nur der Name nicht gar zu sehr von seiner Urgestalt abgewichen ist. Dies ist aber leider der gewöhnliche Fall. Notwendig muss einem solchen Namen erst seine rechte Gestalt gegeben werden, wenn man seine Bedeutung treffen will. Die rechte Aussprache und Schreibart eines verstümmelten und verschriebenen Namens wird wieder hergestellt, wenn man, ohne sich an die durch alle Mundarten sich stets ändernden Selbstlauter und einige unter sich verwandte gleichfalls mangelhafte Mitlauter zu binden, die versetzten Mitlauter wieder in ihre rechte Ordnung stellt, die ausgefallenen wieder einschiebt und die nach einigen Dialekten oder auch wegen des Wohlklanges vorgesetzten, zwischen geschobenen oder nachgesetzten Mitlauter wegwirft. Somit scheint die Auslegung eines Namens ganz von der Willkür des Etymologen abzuhängen. Er kann aus dem Namen machen, was ihm gut deucht. So scheint es freilich anfangs. Allein der Etymologe muss an keinem Eigennamen künsteln oder ihn eigenmächtig umändern, so lange er nicht dazu einen hinlänglichen Grund hat. Der Vergleich verschiedener Eigennamen von gleicher Bedeutung unter sich und noch mehr der Vergleich eines und desselben Namens mit den abweichenden Schreibarten und Aussprachen in verschiedenen Zeitaltern und in verschiedenen Gegenden kann ihm zum Leitfaden dienen und zu dieser Operation berechtigen. Je häufiger ein solcher Name vorkommt, desto glücklicher wird er in Herstellung der rechten Schreibart und Aussprache sein. Aber noch misslicher ist es, wenn der Name ursprünglich zusammengesetzt war und nun einfach und verkürzt erscheint. Dann lässt sich diese Verstümmlung selten berichtigen. Weil indessen der Deutsche sowohl einfache, als auch zusammengesetzte Namen hatte, so muss man nicht gleich jeden einsilbigen Namen für einen verkürzten oder verstümmelten Namen halten. Eccard irrt sich daher zuverlässig, wenn er alle von Leibnitz beigebrachten friesischen Taufnamen ohne Unterschied für zusammengezogene oder verkürzte Namen ausgibt. Sind Bruno der berühmte, der hervorglänzende, Campo der Streiter, der Held, Bole der tapfere, Remmer, Swidde und Starcho der starke, Keno, Cuno der kühne, Toro der Unternehmende, der streitbare, Hudo der Beschützer, Muato der Muthige, Regino die Reine, Witta die Kluge, Wig der Krieger, Alle der Große, Otto der Reiche, aber auch der Glückliche usw. nicht selbständige germanische Namen? Warum sollen denn alle friesischen einer schicklichen Auslegung fähigen Taufnamen verkürzte oder verstümmelte Namen sein? Findet man nicht auch sehr viele einfache friesische Namen in dem Namensverzeichnis des Mönchs von St. Gallen? Es lässt sich aber nicht vermuten, dass weit von einander entfernte Völker ihre Taufnamen gerade auf die nämliche Art sollten beschnitten und verunstaltet haben.