Nicht in ihrer Urgestalt auf uns gekommen

Von Tileman Dothias Wiarda, 1799 (bearbeitet von Knud Bielefeld)


Tileman Dothias Wiarda

§ 14. Sie sind nicht in ihrer Urgestalt, sondern mehr oder minder ausgeartet, verschroben und verstümmelt auf uns gekommen. Davon ist der Grund in der Veränderung der Sprache und in den abweichenden Mundarten

Wir führen jetzt nicht bloß germanische, sondern auch fremde Eigennamen, die wir von den Hebräern, Griechen und Römern entlehnt haben. Obgleich die Sprachen dieser Völker nunmehr tote Sprachen sind, so blühen doch die von diesen Völkern aufgenommenen Namen, als Abraham, Joseph, David, Alexander, Nicolaus, Catharina, Julius, Aeurilius, Paulus, noch in unserem Zeitalter in ihrer Urgestalt. Geschlechtsregister, Denkmäler und Geschichte haben durch die Schriftsprache diese Namen vor aller Ausartung und Umwandlung gesichert. Dieses günstige Schicksal hat nicht die germanischen Eigennamen getroffen. Unsere alten Vorfahren kannten keine Schriftsprache. Sie pflanzten also ihre Eigennamen bloß durch mündliche Überlieferung von einem Zeitalter zu dem anderen fort. Eine solche Überlieferung, die nur von Ohr zu Ohr geht, kann nicht eine Tatsache so rein, so unbefleckt erhalten wie eine Schriftsprache, die uns die Tatsache stur vor die Augen stellt. Die Hebräer, Griechen und Römer hörten und sahen zugleich und sahen richtig. Der Germane hörte bloß, konnte sich verhören und musste sich auch wohl verhören, sobald Sprache und Mundarten sich veränderten. Hierin liegt der erste Grund, warum die germanischen Eigennamen nicht rein, sondern größtenteils verstümmelt und verunstaltet auf uns gekommen sind. Noch verschiedene Umstände haben über die germanischen Eigennamen hier einen dichteren, dort einen dünneren Flor gezogen. Dahin gehört vorzüglich, dass sich die Sprache von dem Entstehen dieser Namen an bis heute sehr verändert hat. „Zwar ist die germanische Sprache“, sagt Friedrich Carl Fulda [evangelischer Theologe und Philologe, * 13. September 1724, Autor einer Sammlung germanischer Wurzelwörter] „auf ihrem Grund und Boden unvermischt geblieben, hat sich frisch erhalten und fürchtet keinen Tod, die Mundarten sind aber mit einzeln Geschlechtern oder Völkern gewandert, hier gestorben und anderswo wieder geboren. Ihre alten gelben Haare haben alle Farben angenommen. Sie haben sich unter sich in allerlei Gestalten gemischt. Ein und eben dasselbe Völklein hat den Gebrauch seiner Wörter, seine Wortbedeutungen, seine Zusammenfügungen und seine Aussprache geändert.“ Da die Bestandteile germanischer Eigennamen aus der germanischen Sprache genommen sind: So mussten auch die Eigennamen mit der Sprache sich ändern. Viele Bestandteile germanischer Eigennamen leben noch in der germanischen deutschen Sprache unverändert, als: Sig, Mut, Ric, stark, fest, kün, Land. Andere blühen nur noch in einigen Gegenden, wie: rad – geschwind, suid – stark. Andere sind veraltet und glimmen nur noch in zusammengesetzten Wörtern hervor: wie Mund, ein Beschützer in Vormund, ram, stark in Beramen, fest beschließen. Noch andere haben sich aus der neueren deutschen Sprache völlig verloren, alsbalb – tapfer, oder glücklich, amal – unbefleckt. Dann haben die Eigennamen sich auch nach den beschriebenen Dialekten biegen müssen. So hieß zum Beispiel der Helfer oder die Hilfe hier ulf, dort hulf, wulf, anders wieder Olf. Wolf, Helf, Welf. Daher finden wir die synonymischen Namen, Ulffart, und Olffert, Melfert und Melfhelm, Wulfhelm vor. Wie verschieden wird nicht der alte echte germanische Name Lutter – denn Caesar hat schon einen Luterius und Libius einen Lutarius – geschrieben und ausgesprochen? Wir lesen Lotar, Slotar, Chlokar, Slother, Lutter, Luter, Ludger, Luder, Lüder, Luer, Luto, Lot. Der bekannte germanische Name Ludwig, hat sich in Ludowic, Hludowic, Chlodovaeus, Lluutwic, Ludavic verändert. Der heutige Deutsche hat seinen Ludwig beibehalten, der Franzose hat sich einen Louis, der Italiener einen Luigi, der Däne einen Ludvik und Lodovic gebildet. Je ausgebreiteter das Gebiet ist, worin ein Name blüht, desto mehr muss der Name ausarten. Die fremden allenthalben in Europa aufgenommenen Namen bewahren es. Johannes, Jean, Jann, John, Janto und Iwan ist ein und derselbe Name. Zum Etienne der Franzosen ist kaum der griechische Stephan, so wie in Gauthier der deutsche Walther, mehr sichtbar.

Selbst die Heiligen, deren Gedächtnistage in den Kalendern aufgestellt sind, haben sich verschiedene Umformungen gefallen lassen müssen. Es wird der Namenstag des heiligen Georg, Georgentag, Gerlentag, Gerigentag, Gorientag, Gürgetag, Gerentag, Görnetag, Gorgentag, Jorigentag, Joringtag etc. gesprochen und geschrieben. Hat also der Name eines Heiligen oder einer und derselben bekannten Person so viele Umwandlungen leiden müssen; wie viel mehr hat ein Name verstellt werden müssen, der viele Jahrhunderte bei unzähligen Menschen in verschiedenen Gegenden in Umlauf gewesen ist?